Wer geachtet werden will, muss zunächst sich selbst achten. Wer Liebe will, muss lieben. Wer Fülle will, muss die Fülle wahrnehmen. Die Samstagskolumne von Kerstin Chavent.
«Wenn du dagegen bist, hast du verloren». Seit 30 Jahren widmet die Schweizerin Marianne Sébastien ihr Leben den Ärmsten der Armen. Tausende Menschen hat die ehemalige Sängerin aus den Minen und von den Strassen und Müllhalden Boliviens geholt, vor allem Kinder, und ihnen Schutz, Nahrung und ein neues Leben angeboten. Millionen hat sie geholfen, sich aus der Misere zu befreien.
In dem von ihr gegründeten Verein «Voix libres» – freie Stimmen – werden die Benachteiligsten der Gesellschaft nicht zu Hilfefällen, sondern zu Unternehmern, die Ausgebeuteten zu Vorbildern für die Entwicklung einer neuen Gesellschaft. Jeder Begünstigte hat einen Auftrag: Zwei Menschen zu finden, denen es noch schlechter geht als ihm. Alle finden Unterstützung. Auf die Initiative einer einzigen Frau geht ein Projekt zurück, das es inzwischen in über einem Dutzend Länder gibt.
Wäre Marianne Sébastien dabeigeblieben, sich zu empören, wäre all das nicht passiert. Sie hätte ihre Energie darauf verwendet, die Fehler im System zu suchen und diejenigen anzuklagen, die Schuld an der Misere sind. Die Hilfsbedürftigen wären verhungert und umgekommen, bevor sie das Erwachsenenalter erreichen.
Auch die Frauen aus dem nepalesischen Bergdorf Khori würden weiter von ihren Männern ausgebeutet und geschlagen werden, wenn sie dabeigeblieben wären, sich zu beschweren. Doch sie hatten genug! Es reicht! Sie standen auf, schlossen sich zusammen, verboten die Alkoholproduktion im Dorf und verlangten Bussgelder von jedem, der betrunken angetroffen wurde. Es hat funktioniert. Nach anfänglichen Schwierigkeiten haben die Männer damit aufgehört, das Geld, das ihre Frauen verdienten, zu vertrinken und zu verspielen. (2)
Die Frauen haben sich genommen, was sie wollten. Sie haben nicht darauf gewartet, dass man es ihnen gibt. Was man uns gibt, das kann man uns wieder nehmen. Nur das, wofür wir uns aus uns heraus engagieren, hat Bestand. Der Schlüssel der Befreiung, darin stimmen die Frauen in Khori und Marianne Sébastien überein, liegt in der Selbstermächtigung. Nicht, um Macht über andere auszuüben und uns etwas zu nehmen, was uns nicht gehört, sondern um das Bewusstseins der eigenen Würde und Schöpferkraft zu erlangen.
Steigender Druck
Wer geachtet werden will, muss zunächst sich selbst achten. Wer Liebe will, muss lieben. Wer Fülle will, muss die Fülle wahrnehmen. So einfach ist das. Und gleichzeitig so schwierig. Das, was wir wollen, ist nicht irgendwo. Niemand anderes hat es. Wir haben es selbst in uns. Hier ist es gut versteckt. Es ist wie die Reise dessen, der ausfährt, sein Glück zu suchen. Als er zurückkommt wird ihm bewusst, dass er es die ganze Zeit dabeihatte.
Ist es das, worauf die Ereignisse uns hinweisen? Wird deshalb alles immer enger und kontrollierter? Steigt deshalb der Druck? Kann es sein, dass wir immer noch mehr Druck von aussen brauchen, um zu erkennen, welches Potenzial sich im Innen verbirgt? Wird uns damit vor Augen geführt, auf welchem Holzweg wir sind, wenn wir weiter im Aussen die Schuldigen und die Retter suchen?
Tatsächlich steigt der Druck. Nirgends zeichnet sich ab, dass die Dinge sich insgesamt zum Besseren wenden. Es besteht die Gefahr, dass wir erdrückt werden. Doch es kann auch anders kommen. Wir müssen nicht noch mehr leiden, noch mehr Schmerz aushalten, noch verzweifelter werden, uns noch ohnmächtiger fühlen. Niemand verlangt das von uns. Wir selbst sind es, die wir unsere eigene Befreiung verhindern.
Leicht machen statt beschweren
Ja, es ist so. Ja, wir erleben gerade eine Zeit der Trennung, der Gewalt, der Ungerechtigkeit. Ja, es tut weh. Und es ist schlimm. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes der Teufel los. Gegen die Mächte, die sich uns jetzt entgegenstellen, können wir nicht ankämpfen. Sie würden uns wie ein Insekt zermalmen. Wir verlieren unsere Energie, wenn wir uns über sie beschweren. Jetzt geht es im Gegenteil darum, sich leichtzumachen.
Leicht und durchlässig den Sturm durch sich hindurchziehen lassen. Ihm keine Hindernisse entgegenstellen, ihm kein Futter geben. Ja, es ist, was es ist, doch nein, ich biete keine Widerhaken, um mich erfassen zu lassen. Verstehen Sie, was ich meine? Verstehen Sie, wie wichtig es ist, jetzt bei sich zu sein? Verstehen Sie, was die Schwächsten der Schwachen und die Ärmsten der Armen verstanden haben? Dass Sie die Macht in sich tragen und dass sie Schöpferwesen sind?
Alles wurde in den vergangenen Jahrtausenden unternommen, um uns das abzutrainieren. Und fast haben wir es vergessen bei all den Geschichten und Narrativen zu unserer eigenen Schwäche und Unzulänglichkeit, die die starke Hand von oben braucht. «Ich glaube das nicht,» heisst das Zauberwort. «Ich bin ein Mensch in meiner Grösse und Würde und ich habe das Zeug dazu, mir die Welt so zu machen, wie sie mir gefällt,» ist das Sesam-öffne-dich. Wir müssen es nur benutzen.
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